Interplay of glass dynamics and crystallization kinetics in amorphous phase change materials

  • Zusammenspiel von Glasdynamik und Kristallisationskinetik in amorphen Phasenwechselmaterialien

Pries, Julian; Wuttig, Matthias (Thesis advisor); Mayer, Joachim (Thesis advisor)

Aachen : RWTH Aachen University (2022)
Doktorarbeit

Dissertation, RWTH Aachen University, 2022

Kurzfassung

Auf der Suche nach Hardware-Implementierungen für künstliche Intelligenz und vom Gehirn inspiriertes neuromorphes Computing bietet die Verwendung von Phasenwechselmaterialien (Englisch: phase change materials (PCMs)) ein hohes Potenzial, da PCMs einen großen Kontrast im elektrischen Widerstand und im optischen Reflexionsvermögen zwischen der amorphen und der kristallinen Phase, eine Nichtflüchtigkeit der Daten sowie einen schnellen Phasenwechsel aufweisen. Ein Phasenwechsel wird entweder durch Amorphisierung über Schmelzabschreckung oder durch Kristallisation eingeleitet. Während PCMs bereits mit großem Erfolg in der gewöhnlichen binären Datenspeicherung eingesetzt werden, werden synaptische Gewichte durch Variation des kristallinen Volumenanteils in einer einzigen mehrstufigen Speicherzelle nachgeahmt. Um die Anwendbarkeit von PCMs in zukünftigen Speichergeräten zu erhöhen, müssen noch zwei Herausforderungen bewältigt werden. Erstens driftet der spezifische Widerstand von amorphen PCMs und nimmt aufgrund der strukturellen Relaxation der Glasphase kontinuierlich zu, was die eindeutige Bestimmung des programmierten Multilevel-Zustands beeinträchtigt. Zweitens dauert die Kristallisation um eine Größenordnung länger als die Amorphisierung und stellt daher den ratenbegrenzenden Schritt dar, der beschleunigt werden muss, um das Datenverarbeitungsvermögen zu maximieren. Die Suche nach Lösungen zur Minimierung oder sogar Umkehrung des Widerstandsdrifts erfordert ein detailliertes Verständnis der Glasphase, der strukturellen Relaxation und der Glasdynamik sowie des Einflusses durch Wärmebehandlung. Um die zweite Herausforderung zu meistern, muss die Kristallisationskinetik von amorphen PCMs gut verstanden werden, sodass eine genaue Vorhersage der diesen Prozess beschleunigenden Bedingungen ermöglicht werden kann. Die Kristallisationsgeschwindigkeit hängt insbesondere davon ab, ob PCMs aus der (amorphen) instabilen Glasphase oder der (amorphen) meta-stabilen unterkühlten Flüssigkeit (Englisch: uncercooled liquid (UCL)) kristallisieren, da ihre Temperaturabhängigkeit grundlegend unterschiedlich ist. Die Kristallisation erfolgt in der Glasphase aufgrund der eingefrorenen, offeneren Struktur im Allgemeinen schneller, wobei das Glas aufgrund der strukturellen Relaxation eine stetige Verlangsamung erfährt, die in der UCL nicht auftritt. Die Frage, aus welcher Phase PCMs kristallisieren, wird jedoch derzeit in der Literatur diskutiert, mit Argumenten auf beiden Seiten. Begleitet wird diese Diskussion durch die Angabe von Temperaturwerten, bei der der Glasübergang stattfindet, die stark streuen. Im Gegensatz dazu ist die Literatur über den Widerstandsdrift ziemlich eindeutig, dass sich amorphe PCMs in einer Glasphase befinden, die strukturell relaxiert. Um beide Herausforderungen anzugehen, konzentriert sich diese Arbeit auf die korrekte Bestimmung, die qualitative und quantitative Beschreibung der amorphen Phase, welche kristallisiert, die Identifizierung von Merkmalen der Glasdynamik und deren Einfluss auf die physikalischen Eigenschaften für mehrere PCMs und einige Nicht-PCMs als Referenz. Zur Identifizierung der amorphen Phase, die kristallisiert, wird die kalorimetrische Antwort und die Auswirkung der strukturellen Relaxation, die durch das Vorglühen induziert wird, auf den spezifischen Widerstand, die Viskosität und die mittelreichweitige Ordnung von vierzehn amorphen Chacogeniden, darunter neun PCM, gemessen und eingehend untersucht. Aus den kalorimetrischen Messungen werden charakteristische Merkmale der Kristallisationskinetik und Glasdynamik wie Enthalpierelaxation und Glasübergang bestimmt. Es wird festgestellt, dass alle PCMs, mit Ausnahme von Ge$_3$Sb$_6$Te$_5$, während der Enthalpierelaxation kristallisieren, bevor der Glasübergang sichtbar geworden ist, was eindeutig beweist, dass sie aus der Glasphase kristallisieren. Umgekehrt kristallisieren alle Nicht-PCMs, mit Ausnahme von Sb$_2$Se$_3$, aus der UCL, nachdem der Glasübergang beobachtet wurde. Wann immer ein deutlicher Glasübergang beobachtet wird, kann die Glasübergangstemperatur $T_\mathrm{g}$ direkt und eindeutig aus kalorimetrischen Messungen ermittelt werden. Die Tatsache, dass der Glasübergang bei den meisten PCMs durch die Kristallisation verdeckt wird, kann die Ursache für die Kontroverse über die kristallisierende amorphe Phase und die große Streuung der berichteten $T_\mathrm{g}$-Werte sein. Dennoch ermöglicht die Analyse der exothermen Enthalpierelaxation und das teilweise kristallisieren des Tellurs in Ge$_{15}$Te$_{85}$ die Bestimmung der Glasübergangstemperatur $T_\mathrm{g}$ drei der bekanntesten PCMs Ag$_4$In$_3$Sb$_{67}$Te$_{26}$ (AIST), Ge$_{2}$Sb$_{2}$Te$_{5}$ und GeTe. $T_\mathrm{g}$ wird zusammen mit dem Fragilitätsparameter $m$ benötigt, um die Temperaturabhängigkeit der Viskosität in der UCL vorherzusagen. In dieser Arbeit wird die Fragilität für mehrere Materialien durch Anpassung und durch die Abhängigkeit der Abkühlungsrate des Glasübergangs ermittelt. Die Fragilitätsmessungen führen zur Entdeckung eines fragil-zu-stark Übergangs (Englisch: fragile-to-strong transition (FST)) innerhalb der UCL in den Materialien GeSe und Ge$_{3}$Sb$_{6}$Te$_{5}$, was für die Stabilität der amorphen Phase bei niedrigen Temperaturen und die hohe Kristallisationsgeschwindigkeit bei hohen Temperaturen von Vorteil ist. Im Gegensatz zu GeSe weist Ge$_{3}$Sb$_{6}$Te$_{5}$ PCM-Eigenschaften auf, weshalb das Vorhandensein des FSTs sein Potenzial für Speicheranwendungen weiter unterstreicht. Wenn der Widerstandsdrift in amorphen Chalkogeniden durch strukturelle Relaxation der Glasphase verursacht wird, sollte der Widerstand unter den richtigen Bedingungen konvergieren und sogar die Driftrichtung invertieren. Diese Bedingungen werden auf ein Nicht-PCM und ein PCM angewandt, und tatsächlich werden erstmals die Driftkonvergenz und die Driftinversion beobachtet. Darüber hinaus kann die Relaxation durch herkömmliche Modelle der Glasdynamik beschrieben werden, so dass eine mathematische Vorhersage des Widerstandsdrifts möglich ist. Das gleiche Modell wird in dieser Arbeit mit Erfolg für die Enthalpierelaxation angewendet. Der experimentelle Nachweis und die mathematische Beschreibung der Widerstandsdriftinversion sind wichtig bei der Integration von PCM-basierten Multi-Level-Datenspeichern für neuartige, vom Gehirn inspirierte Berechnungsschemata, z.B. für künstliche Intelligenz oder In-Memory-Computing, da sie Driftkorrekturverfahren ermöglichen. Neben einer detaillierten Untersuchung der Glasdynamik wurde auch die Kristallisation bei verschiedenen Heizraten untersucht. Die Kristallisation zeigt ein Maximum bei der Kristallisationspeaktemperatur $T_\mathrm{p}$, die in der Kissinger Analyse einer Arrhenius-ähnlichen Heizratenabhängigkeit folgt, wenn aus der Glasphase kristallisiert wird, und einer gekrümmten super-Arrhenius-ähnlichen Heizratenabhängigkeit, wenn aus der UCL-Phase kristallisiert wird. Dieser Unterschied ist ein zusätzliches Kriterium für die Beurteilung, bei welcher Heizrate und Temperatur ein Material aus der Glasphase oder der UCL kristallisiert. Die auf den $T_\mathrm{p}$-Daten basierende Schlussfolgerung bestätigt die aus den kalorimetrischen Daten gewonnene Unterscheidung. Bei der Kristallisation aus der Glasphase wird beobachtet, dass das Vorglühen diesen Phasenübergang aufgrund der strukturellen Relaxation der Glasphase beeinflusst (verlangsamt), während das Vorglühen bei der UCL keine signifikanten Auswirkungen auf die Kristallisation zeigt. Darüber hinaus ändert sich bei PCMs, die aus der glasartigen Phase kristallisieren, die Aktivierungsenergie der Kristallisation drastisch, wenn eine kritische Heizrate $\vartheta_\mathrm{c}$ überschritten wird, was auf eine Änderung des Kristallisationsmechanismus hinweist. Diese drastische Abnahme der Aktivierungsenergie kann dadurch erklärt werden, dass der sich abzeichnende Glasübergang die Kristallisation beeinflusst, wenn die Heizrate $\vartheta$ erhöht wird. Diese Schlussfolgerung wird durch eine hier entwickelte numerische Simulation des Kristallisationsprozesses unterstützt, mit der es möglich ist, die experimentellen Daten einschließlich der Abnahme der Aktivierungsenergie durch die Implementierung eines instantanen Glasübergangs zu reproduzieren. Die kritische Heizrate markiert also den Wendepunkt von Glasphasen- zu UCL-Kristallisation. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die kristallisierende amorphe Phase, aufgrund der in dieser Arbeit getätigten Beobachtungen eindeutig identifiziert werden konnte. Diese Erkenntnis ermöglicht die korrekte Vorhersage der Kristallisation in technischen PCM-Speichermedien, da die Temperaturabhängigkeit nun bekannt ist, wie das entwickelte numerische Modell zeigt. Darüber hinaus helfen die Entdeckung und die erfolgreiche mathematische Beschreibung der Widerstandsdriftinversion bei der Implementierung von mehrstufiger Datenspeicherung, die für fortschrittliche Berechnungssysteme benötigt wird.

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